Dienstag, 02. November 2021

Franz Kolland, Alternsforscher

Was bedeutet persönliche Freiheit?

Franz Kolland ist Soziologe und Altersforscher. Als Universitätsprofessor leitet er das Kompetenzzentrum Gerontologie und Gesundheitsforschung der KL sowie eine Forschungsgruppe zu Altern und Generationenbeziehungen an der Universität Wien. Zuvor war Kolland wissenschaftlicher Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Sozialgerontologie und Lebenslaufforschung.

Interview: Ursula Kastler (Salzburger Nachrichten, 27. August 2020)

Die Pandemie hat in unseren Breiten rüde eine Lebensart unterbrochen, die lange Zeit als Wert und Selbstverständlichkeit betrachtet wurde. Die Fragen, die sich jetzt aufdrängen, sind unbequem.

Fast schien es in den vergangenen Jahrzehnten in Mitteleuropa so, als sei die persönliche Freiheit ein immer weiter ausdehnbares und selbstverständliches Gut. Nun werden die Bürger mit Einschränkungen konfrontiert, die tief in die Sphäre privater Entscheidungen eingreifen. Das breite gesellschaftliche Nachdenken über Freiheit gewann mit der Französischen Revolution und der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert an Schwung. Von den Philosophen, die sich dazu äußerten, sei hier nur Denis Diderot erwähnt, der die Essenz des Freiheitsbegriffs ganz drastisch so zusammenfasste: „Der Mensch, der nur seinem besonderen Willen gehorcht, ist der Feind der Menschheit.“ Bürgerlicher Individualismus sei nicht möglich, ohne in das Kollektiv eingebunden zu sein, sagte er. Der Soziologe Franz Kolland dachte zusammen mit den SN darüber nach.

SN: Was wird nun also aus der persönlichen Freiheit in Zeiten einer Pandemie?

Franz Kolland: Ich bin froh, dass Sie die Frage gestellt haben. Wir haben in der Soziologie in den vergangenen Jahren viel über Gleichstellung nachgedacht. Über Freiheit wenig, vermutlich, weil es bei uns keinen besonderen Bedarf gegeben hat. Jetzt sollten wir wieder darüber diskutieren. Und: auch wenn uns so manche Einschränkung weh tut, sollten wir nicht vergessen, dass es auch vor dem 13. März 2020 keine Willkürfreiheit gegeben hat. Bei der Klage über Freiheitsbeschränkungen sollten wir zudem an die Geschichte zwischen Leibeigenschaft und dem freien Heute denken. Wir haben jene Freiheit, die wir uns im Laufe von Jahrhunderten ausgehandelt haben. Der Standard heute ist so hoch wie noch nie in der Geschichte. Es haben sich nur Dinge in Gang gesetzt, die ungewohnt sind und mit denen wir umgehen lernen müssen. Freiheit ist ein immerwährender Aushandlungsprozess. Und immer leben wir in vergesellschafteter Form. Persönliche Freiheit ist immer limitiert. Sobald ich in den sozialen Raum gehe, ist die Freiheit ein Wechselspiel mit der Freiheit des anderen.

Was registrieren sie als Soziologe derzeit in der Gesellschaft?

Wir sehen, dass sehr viele Menschen die Einschränkungen als anstrengend empfinden, und dass sie der ständigen Auseinandersetzung damit müde werden. Das führt dazu, dass man sich Ventile sucht. Wir sehen aber auch nicht zuletzt in unseren eigenen Studien, dass es eine hohe Akzeptanz und Zustimmung zu allen Maßnahmen gibt. Wir sehen auch sehr viel Vernunft und Solidarität. Das Austarieren zwischen notwendigen Einschränkungen und persönlichen Wünschen ist ein Lernprozess, der dauert. Anstatt gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, etwa ältere Menschen gegen junge, sollte man in den Vordergrund rücken, dass Einschränkungen am Ende zum Wohl aller sind. Medizinisch, sozial und wirtschaftlich. Wir sehen auch wieder deutlich, dass Freiheit ohne ein funktionierendes Rechtssystem nicht möglich ist. Diesbezüglich gibt es große Aufmerksamkeit und beinahe wöchentlich eine Diskussion.

Freiheit ist vor dem Hintergrund sozialer Normen zu sehen. Brauchen wir in dieser Hinsicht vielleicht Veränderung?

Solche Veränderungen geschehen immer wieder. Lassen Sie mich ein kleines Beispiel nennen: Es hat eine Zeit gegeben, in der es selbstverständlich war, im Bus einem älteren Menschen den Sitzplatz anzubieten. Heute ist das nicht mehr so eindeutig, denn ein Mensch will vielleicht gar kein solches Angebot, nur weil er graue Haare hat. Man wird es also jeweils in einer bestimmten Situation persönlich aushandeln müssen. Wenn die Pandemie länger dauert, werden wir wahrscheinlich einige Normen anpassen.

Das wird vermutlich nicht so einfach gehen, wie es sich anhört.

Stimmt. Wir kommen aus einer Welt, die stark von Selbstbestimmung und Individualismus bestimmt war und in der dies auch als Wert betrachtet und forciert wurde. Die Einschränkungen, die wir jetzt haben, werden im Kontrast dazu als besonders heftig erlebt. Als Soziologe bin ich überrascht, wie hoch trotzdem die Bereitschaft ist, diese Veränderungen zu akzeptieren. Das ändert sich vielleicht, je länger die Pandemie dauert und weil es Kurvenverläufe gibt. Niemand kann zudem vorhersagen, wann es ein Ende gibt. Wir werden also so etwas wie eine Karotte vor unserer Nase brauchen, um durchzuhalten. Eine solche Karotte könnte der Solidaritätsaspekt sein, der Zusammenhalt der Gesellschaft. Ich halte nichts davon, spezielle Gruppen herauszugreifen, um sie zu schützen. Wir könnten sehen, dass eine Gesellschaft besser lebt, wenn sich die Bereitschaft zur Fürsorge und Sorge um andere etabliert. Solidarität im Alltag zu leben, ist allerdings nicht so einfach, das gebe ich zu. Regeln um der gesamten Gesellschaft willen einzuhalten, auch wenn es für den Einzelnen nicht unmittelbar etwas bringt, das ist eine Herausforderung.

Sind wir vielleicht auf dem Weg, ein neues Bürgertum zu entwickeln?

Das ist eine gute Frage. Mit unserer Pluralität und Diversität stehen wird im Moment jedenfalls an. Wir müssen uns Fragen stellen, denen wir uns lange nicht gestellt haben. Was ist unser Gesellschaftsvertrag? Wie muss er jetzt aussehen? Das hat ja nicht nur mit der Pandemie zu tun. Es geht auch um andere Themen wie etwa den Klimawandel oder das Wirtschaften. Diesbezüglich wären auch die lange unterbewerteten Philosophen eingeladen, sich an der Suche nach Antworten zu beteiligen. Wenn wir täglich nur noch darüber reden, ob wie die Maske auf oder absetzen sollen und wann wir testen lassen müssen, werden wir uns verzetteln. Es geht jetzt um wesentlich mehr.

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Univ.-Prof. Dr. Franz Kolland

Univ.-Prof. Dr. Franz Kolland

Leitung
Kompetenzzentrum Gerontologie und Gesundheitsforschung

Department für Allgemeine Gesundheitsstudien