Dienstag, 18. Juni 2024

Martin Aigner, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und psychotherapeutische Medizin

„Transitionspsychiatrie stärken und nachhaltige Strukturen verankern“

Primar Assoc. Prof. und Privatdozent Dr. Martin Aigner ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Er leitet die Klinische Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tulln der Karl Landsteiner Privatuniversität. Nach dem Motto „life-long-learning“ engagiert er sich in der Weiterentwicklung des Faches und ist Vorstandsmitglied, Präsident (2022 bis 2025) und Leiter der Ausbildungskommission der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP) sowie Vorstandsmitglied der Österreichischen Schmerzgesellschaft und der Österreichischen Balintgesellschaft. Er lehrt an der Karl Landsteiner Privatuniversität, an der Medizinischen Universität Wien und an der Universität für Weiterbildung Krems. Im neuen PhD-Programm der Karl Landsteiner Privatuniversität „Mental Health and Neuroscience“ ist er „Principal Investigator“.

Durch einschlägige Fortbildungen und umfangreiche Berufserfahrung hat Prim Aigner einen breiten Zugang zur Psychiatrie und psychotherapeutischen Medizin: „Ich bin ein Verfechter des Körper-Leib-Seele-Konzepts. Ohne den „lebendigen Körper“ können wir als Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie nicht arbeiten, individuelle und soziale Aspekte spielen neben den biologischen eine Rolle. Zum Teil kennen wir gegenseitige Zusammenhänge, wie zum Beispiel die Beteiligung des Immunsystems vor allem bei einem Teil der Depressionen oder anderen Erschöpfungszuständen. Wir können diese Einflüsse oft messen. Das ist aber nicht immer der Fall, nur weil wir sie (noch) nicht sehen, heißt das nicht, dass es keine körperlichen Manifestationen gibt. Im Rahmen der Psychiatrie und psychotherapeutischen Medizin versuchen wir das subjektive Empfinden und die objektivierbaren Parameter zu einem Gesamtbild zusammenzuführen. Durch begleitende Forschung lernen wir dazu und erhalten ein vollständigeres Bild von Krankheiten. Derzeit planen wir zu untersuchen, wie Veränderungen im Mikrobiom mit psychischen Symptomen zusammenhängen.“

Während des Medizinstudiums arbeitet Martin Aigner als studentischer Assistent, später als Universitätsassistent am Anatomischen Institut der Universität Wien und beschäftigt sich mit der Rolle der Propriozeption in den äußeren Augenmuskeln. Getrieben von der Frage „Wie kommt es zu einer Willensbewegung“ vertieft sich der Mediziner in motorische Regelkreise und forscht zu neuro-anatomischen Zusammenhängen. Über pathologische, neuro-funktionale Abläufe reichen seine Auseinandersetzungen bis hin zu Zwangsstörungen. 2006 habilitiert sich der Wissenschaftler mit dem Thema „Bio-psycho-soziale Beiträge zu den Zwangsstörungen und den Schmerzstörungen“. Während dieser Zeit erhält Dr. Martin Aigner drei Wissenschaftspreise, zwei von der Österreichischen Schmerzgesellschaft und einen vom Wiener Verein für Neurologie und Psychiatrie. 2011 wechselt er ans Universitätsklinikum Tulln, das damalige Landesklinikum Donauregion Tulln, und wird mit der Leitung der Klinischen Abteilung der Erwachsenenpsychiatrie, der heutigen Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, betraut.

Durch Untersuchungen an Patient:innen mit Zwangsstörungen erweitert sich die Sicht von Dr. Aigner auf die Psychotherapie: „Ich war stark verhaltenstherapeutisch geprägt und bin von einer zentralen Rolle der Exposition mit Responseprävention (ERP) in der Therapie der Zwangsstörung ausgegangen. In einer Studie, bei der wir erstmalig in Österreich die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) als Verlaufsparameter für eine Verhaltenstherapie eingesetzt haben, hat sich gezeigt, dass positive, stabilisierende Beziehungserlebnisse einen Umschlagspunkt herbeiführen können, der dann durch ERP stabilisiert werden kann. Diese Erkenntnis während der Studie war prägend“, erinnert sich Prim. Assoc. Prof. Aigner. Das Angebotsspektrum des Universitätsklinikums Tulln ist vielschichtig im Sinne einer Sektorpsychiatrie für eine bestimmte Region Niederösterreichs. Aigner hat an den Richtlinien des Weltverbands der Gesellschaften für biologische Psychiatrie (WFSBP) zur pharmakologischen Behandlung von Essstörungen mitgearbeitet. Seit 2014 steht Ketamin am Universitätsklinikum Tulln als Behandlungsoption bei therapieresistenter Depression zur Verfügung, was der Expertise von Prim. Aigner für die Zusammenhänge von Psychopharmakotherapie und Psychotherapie geschuldet ist. 

Während der COVID-19-Pandemie steht die Abteilung wie viele andere vor großen Herausforderungen. „Seit Covid-19 beschäftigen wir uns verstärkt mit dem Thema Digitale Gesundheitskompetenz. In Deutschland ist der Ausbau schon etwas weiter und vergleichbare Angebote werden in Österreich folgen. Wichtig bei diesen digitalen Angeboten ist, dass sie nie ohne Therapeuten oder Therapeutin auskommen werden“, weiß Primar Aigner. Er ist außerdem Mitautor der Leitlinie zur Behandlung postviraler Zustände.  

„Derzeit steht der Ausbau von Angeboten für Jugendliche und junge Erwachsene im Fokus“, erklärt Prof. Dr. Aigner, „aktuell haben wir in der Akutambulanz einen Anteil von circa 15% an 18-25-Jährigen. In der Tagesklinik wächst ihr Anteil auf ein Viertel und stationär stellt diese Altersgruppe sogar ein Drittel der Patient:innen dar. Daher legen wir einen besonderen Schwerpunkt auf die Transitionspsychiatrie und auf die Verankerung nachhaltiger Strukturen“. Transition bezeichnet den Übergang vom Kind zum Erwachsenen. „Für die Transitionspsychiatrie braucht es die Einbindung der Pädagogik. Mit dem Forschungszentrum Transitionspsychiatrie können wir die wissenschaftliche Seite bedienen. Wir wollen Jugendliche aus der Akutpsychiatrie so schnell wie möglich in ihr Alltagssetting zurückführen. Stationär ermöglichen wir stabile Lernerfahrungen, um die sogenannte Verstärkerfalle zu vermeiden. Es soll keine angelernte Hilflosigkeit entstehen und die Resilienz unserer Patient:innen muss gestärkt werden. Aktives Mittun wird zum Beispiel von Genesungsbegleiter:innen erbracht und so Selbsteffizienz gefördert. Wie andere Projekte soll auch der Einsatz von Genesungsbegleiter:innen wissenschaftlich begleitet werden. Mit zwei bis drei habilitierten Oberärzt:innen gibt es im Team nicht nur viel Expertise, sondern auch viele neue Ideen für Projekte und Maßnahmen“, erzählt Prim. Assoc. Prof. Dr. Aigner. 

Aktuelle Herausforderungen sieht der Leiter der Klinischen Abteilung durch gesellschaftspolitische Entwicklungen und Veränderungen auf die Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin zukommen: „Die aktuelle Debatte um die Legalisierung von Cannabis in Deutschland verfolgen wir gespannt, da wir Cannabiskonsumenten im Rahmen von Psychosen regelmäßig aufnehmen müssen. In den nächsten Jahren wird sich die Diagnostik auf Grund der Einführung der ICD-11 verändern. Die ICD ist die Internationale Klassifikation von Krankheiten der WHO“. Wie eng die Psychiatrie mit anderen Fächern verwoben ist, weiß der Primar schon lange: „Am Ende meiner Facharztausbildung arbeitete ich vorübergehend auf einer gastroenterologischen Abteilung und fand dort überraschend viele psychiatrische Störungsbilder. Therapiebegleitende oder präventive psycho- und soziotherapeutische Behandlungen können die Genesung und die Lebensqualität positiv beeinflussen.“ Die Vielschichtigkeit der Psychiatrie und ihre Vernetzung mit anderen Disziplinen wird in einem geplanten Projekt mit der Universität für Bodenkultur in Tulln sichtbar: Inhaltsstoffe von Lebensmitteln werden analysiert und ihr Einfluss auf psychotische Exazerbationen untersucht.

Link zum Forschungsportal KRIS

Prim. Assoc. Prof. PD Dr. Martin Aigner

Klinische Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin (Universitätsklinikum Tulln)