Wednesday, 02. November 2022

Jeder Fall für sich ist eine Chance zu lernen

Im September 2022 wurde Mag.a Dr.in Gerlinde Maria Gruber, Osteologin und Fachärztin für Anatomie an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften vom Pressbaumer Gemeinderat einstimmig zur Totenbeschauärztin in ihrer Heimatgemeinde Pressbaum, Niederösterreich, bestellt. Wir sprachen mit ihr über ihre neue berufliche Aufgabe und darüber, was sie sonst im Leben antreibt.

So manche_r bräuchte mindestens zwei Leben, um das vielseitige Interessens- und Tätigkeitsspektrum von Mag.a Dr.in Gerlinde Maria Gruber abzudecken. Als Tausendsassa könnte man die Fachärztin für Anatomie, die seit 2019 an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften lehrt und forscht, zweifelsfrei bezeichnen: Im ersten Bildungsweg wählt Gruber die Kindergartenpädagogik, ehe sie sich zunächst für ein Studium der Biologie mit Schwerpunkt Anthropologie entscheidet und schließlich auch noch das Studium der Medizin an der MedUni Wien aufnimmt. 

Neben ihrer Tätigkeit an der Kremser Privatuniversität lehrt sie als eine von wenigen Osteologinnen am Department für Evolutionäre Anthropologie an der Universität Wien, managt eine sechsköpfige Familie und findet auch noch Zeit für ihr liebstes Steckenpferd – die Kunst. Ihre vielschichtigen künstlerischen Talente verbindet Gruber in der Zwischenzeit mit ihrem beruflichen Umfeld an der KL, wo sie etwa für die ÖH KL (Österreichische Hochschüler_innenschaft) Motive für Merchandising-Artikel zeichnet.Seit September 2022 bekleidet die Pressbaumerin nun auch das Amt als medizinische Sachverständige bei Angelegenheiten des NÖ Bestattungsgesetzes 2007, LGBI. 9480 in ihrer niederösterreichischen Heimatgemeinde, kurz gesagt: Gerlinde Maria Gruber ist die neue Totenbeschauärztin in Pressbaum. 

Totenbeschauer_in ist wahrlich kein „Allerweltsjob“, obgleich weitaus weniger spektakulär – wie Gruber erklärt –, als man als medizinischer Laie mit den Eindrücken aus TV-Serien wie CSI oder Tatort vermuten würde. Doch wie kommt man zu einem Beruf wie diesem?

„Ich habe schon während des Medizinstudiums mit dem Bereich der Forensik geliebäugelt. Und auch später auf der Anatomie kamen meistens die Körperspenden mit Schussverletzungen zu mir“, schmunzelt Gruber, die auch großes Interesse für die Gerichtsmedizin gehegt hätte, die es aber schlussendlich doch in den Fachbereich der Anatomie und in die Lehre zog. Mit der Berufung zur Totenbeschauärztin geht für die Pressbaumerin nun gewissermaßen ein Traum in Erfüllung. Schon vor einigen Jahren wurde sie von ihrer Heimatgemeinde darauf angesprochen, ob sie die Totenbeschau übernehmen wolle. „Damals hatte ich zum einen meine Facharztausbildung noch nicht abgeschlossen, zum anderen fühlte ich mich nicht dazu bereit“, erklärt sie ihr Zögern. Dann kam die Pandemie und für Gruber, die bis dahin vorwiegend in der universitären Lehre und Forschung tätig war, die stärkere Einbindung in das gemeindeärztliche System. „Im Zuge der Pandemie hat man in Pressbaum ärztliche Helfer_innen in den Impfstraßen gesucht. So kam ich stark in den praktischen Bereich. Plötzlich hatte ich sehr viel Kontakt mit Patient_innen und zudem die Möglichkeit, mich mit Kolleg_innen auszutauschen. So kam es auch, dass ich einmal als Vertretungsärztin meiner Pressbaumer Kollegin die Totenbeschau übernehmen durfte und dieser Bereich wieder mehr in den Fokus rückte.“ 

In Österreich obliegen Todesfälle der Zuständigkeit der Gemeinden, wobei die gesetzlichen Grundlagen in den jeweiligen Landesgesetzen geregelt werden. Im niederösterreichischen Bestattungsgesetz ist genau definiert, wer zum Beschauen Verstorbener berechtigt ist. „Üblicherweise sind in Österreich Gemeindeärzte die Totenbeschauer_innen“, erläutert Gruber. Jedoch können de jure auch Ärztinnen und Ärzte, die zur selbstständigen Ausübung des ärztlichen Berufes berechtigt sind, ganz unabhängig davon, ob sie Allgemeinmediziner oder Fachärzte sind, als Totenbeschauer_in arbeiten, sofern sie regelmäßig einschlägige Fortbildungen absolvieren. Für die Anatomin schlussendlich der Anstoß, mutig den nächsten Karriereschritt zu wagen. „Die stärkere Einbindung in das Helfer_innensystem der Gemeinde, die bevorstehende Pensionierung des diensthabenden Pressbaumer Gemeindearztes und die erneute Anfrage seitens der Gemeinde haben mich schließlich zum Sprung ins kalte Wasser bewegt“, erzählt Gruber. Sie besucht zunächst eine Fortbildung in Linz – im Übrigen eine von wenigen österreichweit – und reicht bei der Gemeinde Pressbaum ihre Bewerbungsunterlagen für den Job als Totenbeschauerin ein.

„Der Berufungsprozess war relativ unspektakulär“, wie Gruber schildert, „nicht so aber mein erster Einsatz im Februar 2022, der eigentlich in die Rubrik Worst-Case-Szenario für Beschauärzt_innen fällt.“ Gruber wird im Rahmen ihres Ersteinsatzes von der Polizei in die Wohnung einer verstorbenen Person gerufen, um die Totenbeschau vorzunehmen. Bei der Totenbeschau geht es darum, unter Berücksichtigung der Krankengeschichte der verstorbenen Person sowie mithilfe vorhandener ärztlicher Befunde, eine Ersteinschätzung über die mögliche Todesursache vorzunehmen. Findet die Totenbeschauerin bzw. der Totenbeschauer eine unauffällige Auffindungssituation vor und lässt sich der Tod anhand der Anamnese und vorhandener ärztlicher Befunde befriedigend rekonstruieren, kann die amtliche Feststellung des Todes erfolgen. „In diesem Fall aber war es so, dass die Auffindungssituation zwar unauffällig war, die verstorbene Person jedoch nicht einmal über eine E-Card verfügte, da sie seit Jahrzehnten keinen Arzt aufgesucht hatte“, erinnert sich Gruber an ihren Kick-Off in den neuen Job. Aber gerade diese „Detektivarbeit“, das Zusammensetzen unterschiedlicher Puzzleteile und die Rekonstruktion der letzten Stunden im Leben einer verstorbenen Person sind es, die Gruber so spannend findet. 

Im Fall einer unklaren Auffindungssituation oder dem Verdacht auf Fremdverschulden bzw. einer meldepflichtigen ansteckenden Krankheit im Sinne des Meldegesetzes würden weitere Instanzen, wie etwa die Staatsanwaltschaft, die Amtsärztin bzw. der Amtsarzt oder auch die Gerichtsmedizin zur Klärung der Todesursache mittels Obduktion herangezogen werden. Dem Verantwortungsbereich der/des Totenbeschauer_in obliegt es somit, in welche Richtung ein Fall verläuft. 

„Man muss schon eine gewisse Leidenschaft, ja Affinität, für diesen Bereich der Medizin mitbringen“, so Gruber, die bedauert, dass tendenziell wenige junge Mediziner_innen die Tätigkeit der/des Totenbeschauer_in ins Auge fassen. „Die Entlohnung ist definitiv kein Motivator, Totenbeschauer_in in Österreich zu werden, aber auch allgemein gesprochen möchten die meisten Ärzt_innen mit lebenden Patient_innen arbeiten“, resümiert Gruber. Die Einsätze werden auf Werkvertragsbasis pauschal vergütet, wobei zwischen dem Ausrücken an Wochentagen, Nacht- und Wochenend- bzw. Feiertagsdiensten unterschieden wird. Anforderungen, wie die Erreichbarkeit in einem breiten Zeitraum, generelle Flexibilität sowie der oft zusätzlich entstehende Aufwand bei unklarer Sachlage tragen nicht unbedingt dazu bei, den Beruf des Totenbeschauers für künftige Generationen attraktiver zu gestalten. 

Aber auch diese „Schattenseiten“ tun Grubers Leidenschaft für ihren Beruf keinen Abbruch. Zu ein bis zwei Einsätzen wird sie im Durchschnitt pro Woche gerufen. „Unlängst wurde ich von der Pressbaumer Polizei angerufen. Ich solle mir einen Knochenfund im Wald ansehen, da es sich laut Polizei möglicherweise um menschliche Knochen handeln könnte“, erzählt Gruber. „Da ich gerade im Zug saß und auf dem Weg ins St. Pöltner Universitätsklinikum zum Sezierunterricht in der Pathologie unterwegs war, konnte ich mir den Fund erst am Abend ansehen, war aber – vor dem Hintergrund meiner Tätigkeit als Anthropologin – mehr als gespannt.“

Dass es sich – glücklicherweise – um die Knochen des Hinterlaufs eines jungen Wildschweins handelte, war Gruber nach Begutachtung des asservierten Knochenfunds sofort klar. „Jeder Fall für sich ist eine Chance zu lernen“, zieht sie Resümee. Aus einem Körper könne so viel über die letzten Stunden im Leben eines verstorbenen Menschen und dessen Gesundheitszustand herausgelesen werden, so Gruber. Der Lernerfolg, den der Beruf selbst für die erfahrende Medizinerin mit sich bringt, ist enorm. „Die Erfahrungen, die ich durch meine Tätigkeit sammle und das Wissen, das ich dabei generiere, sind vor allem deshalb so wertvoll, weil ich sie an meine Studierenden weitergeben kann und dadurch künftige Generationen profitieren können.“

(Text: Selma Vrazalica)