Mittwoch, 22. Oktober 2025

Wie Künstliche Intelligenz unser Verständnis von Alter(n) mitprägt

Künstliche Intelligenz (KI) spielt eine immer größere Rolle, wenn es um das Alter(n) geht. Doch wie genau beeinflusst sie das Leben älterer Menschen – und wie wird diese Beziehung in der Forschung betrachtet? Im Rahmen einer Studie am Kompetenzzentrum für Gerontologie und Gesundheitsforschung an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften wurde herausgearbeitet, wie die Alterssoziologie bislang das Zusammenspiel von KI und Alter(n) theoretisch beschrieben hat. 

Auf dieser Grundlage wurden zentrale Begriffe entwickelt, um diese neue Beziehung „Alter und KI“ besser zu verstehen. Dabei stützt sich die Analyse auf Ansätze der Gerontologie und kombiniert theoretische Überlegungen mit Erkenntnissen aus einer qualitativen Studie. Untersucht wurde darin, wie KI in der Langzeitpflege entwickelt, eingesetzt und umgesetzt wird – und welche konkreten Auswirkungen das auf das Altern hat. Die Ergebnisse zeigen, dass KI nicht nur als technisches, sondern vielmehr als sozialtechnisches Gefüge verstanden werden muss. 

Konkret wurden in der Studie drei Ziele verfolgt, schildert Studienautorin Dr.in Vera Gallistl, BA MA, Assistenzprofessorin am Kompetenzzentrum für Gerontologie und Gesundheitsforschung an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften: „Erstens möchten wir aufzeigen, dass viele aktuelle Diskussionen über Künstliche Intelligenz im Bereich der Altersforschung wichtige Aspekte übersehen“, erklärt Gallistl. Oft werde KI als reine Unterstützung oder Lösung für Probleme im Alter gesehen – etwa in der Pflege oder zur Erhöhung der Sicherheit. Diese Sichtweise greife jedoch zu kurz, weil sie die komplexen und vielschichtigen Beziehungen zwischen KI und Altern ausblende. Darauf aufbauend wird in der Studie die sogenannte Assemblage-Theorie* vorgestellt – ein Denkansatz, der helfen kann, die vielen unterschiedlichen Verbindungen zwischen KI und Altern besser zu verstehen. „Im Gegensatz zu einem rein technischen Blick fragt dieser Ansatz: Wie entstehen die Beziehungen zwischen KI und Altern? Wer gestaltet sie mit, und welche Rolle spielen ältere Menschen?". Wie Gallistl weiter ausführt, orientierte sich das Team an Forschungsrichtungen, die sich schon länger mit der sozialen Bedeutung von Technologie beschäftigen, wie etwa die Wissenschafts- und Technikforschung oder Überwachungsstudien. Ziel sei es, mithilfe der Assemblage-Theorie ein realistischeres und differenzierteres Bild vom Zusammenspiel von KI und Altern zu zeichnen – jenseits einfacher Lösungsversprechen. „Drittens prüfen wir, wie dieser Ansatz in der Praxis funktioniert. Dafür beziehen wir uns auf eine qualitative Studie zur Entwicklung und Nutzung von KI in der Altenpflege.“  

Vielfältigkeit, Macht und Grenzen
In der Praxis zeigen sich viel mehr unterschiedliche Beziehungen zwischen KI und älteren Menschen, als man auf den ersten Blick vermuten würde, erklärt die Expertin. Dabei gehe es nicht nur um Technik im Labor, sondern um echte, komplexe Situationen im Alltag. „Wichtig ist, die KI nicht als ein einheitliches und starres ‚Konzept‘ zu verstehen. Sie wird durch Menschen in sehr unterschiedliche Formen gebracht – vor allem im Bereich Pflege. Das bedeutet: KI ist nicht eine bestimmte Technologie, sondern entsteht erst durch ihre Nutzung und Gestaltung im Alltag“, führt Gallistl aus. Eine weitere zentrale Frage ist jene der Rollenverteilung: Wer gilt als Experti:n für KIWer wird als Nutzer:in gesehen – und wer nicht? Oft werden ältere Menschen nicht als aktive Beteiligte, sondern eher als passive „Objekte“ von Überwachung oder Pflege wahrgenommen. „Dabei werden Grenzen gezogen: Wer darf entscheiden? Wer wird ernst genommen? Diese Grenzen sind nicht natürlich, sondern werden gesetzt – meist aus bestimmten Interessen heraus. Gleichzeitig lassen solche Grenzziehungen bestimmte Fähigkeiten älterer Menschen unsichtbar werden“, so Vera Gallistl. Darauf aufbauend sind Machtverhältnisse ein weiterer zentraler Aspekt, der berücksichtigt werden müsse – insbesondere wichtig erscheint die Frage, wer Einfluss darauf hat, wie KI eingesetzt wird. „In vielen Fällen werden ältere Menschen dabei vor allem als Datenquelle herangezogen, nicht jedoch als Mitgestaltende wahrgenommen. Es geht also auch darum, wessen Stimmen gehört werden und wessen nicht."

Drei zentrale Praktiken in Beziehungen zwischen KI und Altern
In der aktuellen Analyse wurden schlussendlich drei Arten von Praktiken identifiziert, die besonders prägend dafür sind, wie KI-Strukturen und -Prozesse ältere Menschen wahrnehmen, einbeziehen und beeinflussen: „Zum einen sprechen wir von Datenpraktiken, die besagen, dass alternde Körper oft auf messbare Daten reduziert werden. Diese Daten sind für Unternehmen, die KI entwickeln, von wirtschaftlichem Interesse. Dabei gerät jedoch die Sicht auf den Menschen als Ganzes oft aus dem Blick. Als zweite Praktik wurden die Innovationspraktiken definiert, die davon ausgehen, dass die Vorstellung von „Fortschritt“ meist mit technologischem Fortschritt gleichgesetzt wird. Es wird wenig darüber nachgedacht, ob Innovation auch soziale Veränderungen oder neue Rollen für ältere Menschen bedeuten könnte. Und als dritte Unterkategorie zeigen Black-Boxing-Praktiken, dass viele Prozesse rund um KI im Verborgenen bleiben – etwa, welche Annahmen über ältere Menschen in die Technik eingebaut werden oder welche wirtschaftlichen Interessen im Hintergrund stehen. Gleichzeitig werden ältere Menschen oft nicht als handelnde Personen sichtbar, sondern lediglich als Ziel von Überwachung und Analyse“, schildert Dr.in Vera Gallistl. Ihr Fazit: „Der verbreitete Glaube, dass KI das Leben älterer Menschen automatisch verbessert, greift zu kurz. In Wirklichkeit sind die Beziehungen zwischen Altern und KI viel komplexer. Es lohnt sich, genauer hinzusehen, wer an diesen Beziehungen beteiligt ist, welche Interessen eine Rolle spielen – und was möglicherweise übersehen oder absichtlich ausgeblendet wird.“

* Assemblage ist ein philosophisches Konzept, das von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelt wurde. Die Assemblage-Theorie betrachtet soziale Komplexität als etwas Dynamisches, Veränderliches und Vernetztes. Im Mittelpunkt steht die Annahme, dass menschliches Handeln nicht primär auf individueller Autonomie beruht, sondern auf materiellen Abhängigkeiten und Diskursnetzwerken, die sich über rechtliche, geografische, kulturelle und ökonomische Strukturen hinweg erstrecken. Kurzum: Die Assemblage-Theorie untersucht, wie Menschen, Technik und soziale Strukturen zusammenwirken.

 

Originalpublikation:

AI-Ageing Assemblages: Multiplicity, Power, and Boundaries in the Co-Constitution of Ageing and Artificial Intelligence - Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften