Coronaviren

Zusatz Psychosoziale Aspekte

Long Covid - S1 Leitlinie und weiterführende Informationen

Autor_innen: 

Chefarzt Prim. Dr. Georg Psota

Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien, Leiter des Psychosozialen Krisenstabs der Stadt Wien

Dr.in Susanne Schütt

Kaufmännische Geschäftsführerin ESRA, Mitglied des Psychosozialen Krisenstabs der Stadt Wien

Zusatzkapitel sind nicht Teil der Leitlinie S1, sondern bieten Zusatzinformationen. Sie geben daher die Erfahrungen und Einschätzungen der jeweiligen als Autoren angeführten Experten wieder.

Einleitung

Bislang werden die psychiatrischen Symptome von Long Covid massiv unterschätzt. Da sie oft mit neurologischen Symptomen vermischt werden und gleichsam als Gruppe „neuropsychiatrischer“ Symptome erfasst werden. Diese („neuropsychiatrische“) Gesamtheit liegt zu verschiedenen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Schweregraden bei mehr als der Hälfte der von Long Covid Betroffenen vor (siehe Richter & Zürcher 2021; Zürcher et al 2021; Rittmannsberger et al 2022).
Auch die Unterschiedlichkeit der Symptomatik in der Akutphase (bis Ende Woche 4), in Long Covid Bereich in der Woche 5-12 nach Infekt, oder als Post Covid (Neu-)Erkrankung nach Woche 12, bedarf noch weiterer Differenzierung und Erforschung (siehe auch die beiden S1-Leitlinien zu Long Covid: Koczulla AR et al 2021; Rabady S et al 2021).

Symptome

4 unterschiedliche psychiatrische Symptom-Cluster sind am wichtigsten:

  1. Angst und Depression
  2. Fatigue und heftige Erschöpftheit
  3. Massive Schlafstörungen
  4. Kognitive Störungen (Brain-fog, Gedächtnis, Konzentration, Auffassung etc.)

Der Cluster 4 kann genauso gut aus neurologischer Perspektive verstanden werden.
Die Cluster 1-3 sind genuin psychiatrisch.

Pathogenese

Im Sinne des bio-psycho-sozialen Modells psychischer Erkrankungen gibt es 3 Hauptachsen in der Pathogenese psychiatrischer Long Covid Symptome (siehe auch Kop 2021):

  1. Zur biologischen Achse: Hauptsächlich ist die psychiatrische Symptomatik bei Long Covid Ausdruck einer (infektiös, bzw. postinfektiös) organisch bedingten Funktionsstörung des Gehirns, also der ICD10 Gruppe F06.X. Die beiden Subgruppen F06.3 (=organisch affektive Störung) und F06.4 (=organische Angststörung) werden wohl die häufigsten Varianten sein. In diesem Zusammenhang darf daran erinnert werden, dass Delirien (ICD10 F05.X) eine sehr häufige Komplikation der akuten (und auch subakuten) Covid 19-Erkrankungen sind (siehe z.B. Wilcox et al 2021).
  2. Zur psychologischen Achse: Psychodynamische Verstärkungen sind trotz primär biologischer Grundlage dennoch im Sinne einer akuten/subakuten Belastungsreaktion möglich (wie bei allen anderen Erkrankungen auch).
  3. Zur sozialen Achse: Gleiches gilt für sozial/existentielle Komplikationen durch Long Covid, die Auswirkungen auf die Psychodynamik und in komplexen Interaktionen vermutlich auch auf die biologische Ebene haben können.

Generell geschehen im Wege akuter/subakuter Belastungsreaktionen immer sympathikotone Prozesse, die von Heilung eher weg, als hinführen.

Ad Therapie

Wie in der klassischen medizinischen Trias muss nach Untersuchung und Diagnose die Therapie folgen.

Auch im psychiatrischen Behandlungsbereich gibt es einiges an Möglichkeiten und ebenso vieles an Irrtümern.

  1. Zum einen gibt es die Möglichkeit mit bestimmten Antidepressiva (Fluvoxamin und – weniger gut belegt- auch Fluoxetin – siehe z.B. Oskotsky et al 2021) über spezielle gleichsam „antiinflammatorische Nebenwirkungen“ die Morbidität und Mortalität bei Covid-19 Erkrankten zu reduzieren. Eine günstige Auswirkung auf Long Covid ist in gewisser Weise anzunehmen, aber nicht gesichert.
  2. Zum anderen gibt es die Möglichkeit rein symptomatisch verschiedene Beschwerden von Long Covid zu lindern.
    -) Myalgien gehen häufig auch mit massiven Schlafstörungen einher und diese sprechen auf Pregabalin in oft sehr niedriger Dosis einigermaßen gut an.
    -) Bei isolierten Schlafstörungen sind beruhigende Antidepressiva wie Trazodon, oder Mirtazepin eine gute Möglichkeit. Auch hier sollte im ganz niedrigen Dosisbereich begonnen werden, aber rasch die Dosis angeglichen werden, wenn keine Wirkung eintrifft. Betreffend hypnotischer oder anxiolytischer Wirkung treten gewünschte Effekte entweder rasch ein (innerhalb 1-2 Tagen), oder die Dosis, beziehungsweise das Medikament passt nicht.
    -) SSRI’s und auch duale Antidepressiva sind rein symptomatisch bei Fatigue einen mehrmonatigen Therapieversuch wert.
    -) Bei ausgeprägten kognitiven Symptomen gibt es positive Einzelfallberichte zu Ginkgo biloba in relativ hoher Dosierung (über 200mg tgl.)
    -) Bei all diesen symptomatischen Behandlungen müssen potentielle Wechselwirkungen im Auge behalten werden.
    Allerdings sind vielfach junge Frauen von Long Covid betroffen und diese sind nicht gerade die Patientinnengruppe mit besonders häufiger Polymedikation (cave jedoch Kontrazeptiva).
    -) Die Verstärkung bereits vor der Covid-Infektion bestehender psychischer Erkrankungen ist in vieler Weise möglich, affektiv, kognitiv und auch in psychotischer Form. Hier gilt es die entsprechende psychiatrische Grunderkrankung expliziter zu behandeln.
Abschließend

Die affektiven oder kognitiven organischen Psychosyndrome bei Long Covid werden viel zu oft psychodynamisch uminterpretiert – und das nicht nur von Laien. Die „Unterstellung“ einer quasi somatoformen Störung ist etwas, was die Betroffenen zu Recht verbittert und gegenüber psychiatrischen Behandlungen höchst skeptisch stimmt. Das ist schade, da einerseits psychiatrische Medikationen auch rein symptomatisch lindernd wirken und andererseits adäquate psychosoziale-Beratungen in der Krankheitsbewältigung hilfreich sein können.

Kinder- und Jugendpsychiatrische Folgen im Rahmen von Long-Covid

Da noch keine allgemeingültige Definition des Long-Covid für Kinder und Jugendliche vorliegt orientiert sich diese Stellungnahme an der Symptomliste der WHO (2021 Okt 6th) und an den angeführten Publikationen.

Symptomatik: Folgende psychiatrische Symptome wurden bisher im Rahmen von Long Covid für Kinder und Jugendliche beschrieben

  • Angst
  • Depression
  • Benommenheit, Schwäche (execise-intolerance)
  • Schlafstörungen
  • Kopfschmerzen
  • Gedächtnisprobleme, Lernschwierigkeiten, Konzentrationsschwäche
  • Fatigue
  • Appetitstörungen i.R. von Schmeck- und Riechproblemen

Risikofaktoren: i.R. v. Covid zusätzliche Belastungen wie Quarantänemaßnahmen, Schul-Lockdown, Angehörige im Dienst der Covid-Versorgung (erhöhte Exposition), erkrankte oder verstorbene
Angehörige; vorbestehende somatische oder psychische Erkrankung; selbst auf Intensivstation aufgenommen wegen Covid;

Diagnostik: Anamnese; K+J-Psychiatrischer Status, PHQ-9 als Screening-Instrument

Vorgehen: bei positiver Anamnese oder psychiatrischem Status Durchführung des Screening, wenn auch das positiv Zuweisung zu Kinder- +Jugendpsychologie und/oder -psychiatrie

CAVE:

  • genaue Differenzierung, ob die beschriebene Symptomatik schon vor Covid-Erkrankung bekannt war;
  • ob Symptomatik persistiert seit Covid-Erkrankung oder neuaufgetreten ist
  • psychiatrische Folgen sind auch bei Kindern und Jugendlichen OHNE Covid-Erkrankung in einem deutlich erhöhten Ausmaß bekannt (Angst, Depression, Essstörung)
  • auch an nicht betroffene Geschwister denken! Belastung durch erkranktes Geschwister!
Long-Covid bei Jugendlichen: schwierige Differenzierung zu allgemeinen psychologisch-psychiatrischen und sozialen Pandemiefolgen
Prävalenz & Verlauf

Bei sehr unterschiedlicher Datenqualität kristallisiert sich zuletzt eine Prävalenz von bis zu 30% Long-Covid Verläufen bei Jugendlichen heraus [1]. Zumeist ist die Prognose gut, wobei Studien jenseits der 6-Monats Katamnese rar sind. Die Studienlage erlaubt es nur eingeschränkt, Langzeitsymptome, die mit einer Sars-CoV2-Infektion in Verbindung stehen von allgemein pandemieassoziierten Symptomen zu unterscheiden [2, 3]

Symptomatik
  • Sehr ähnlich der Erkrankung bei Erwachsenen, mit Fatigue, Kurzatmigkeit, Trainingsintoleranz, verkürzter Gehstrecke, allgemeiner Schwäche, Schlafstörungen, sensorischen Einschränkungen, Funktionseinschränkung im täglichen Leben [4, 5, 6]
  • Besonderer Stellenwert von Angst- und Stresssymptomatik [4, 7, 8]
  • Konzentrationsprobleme, Kopfschmerz, Muskel- und Gelenksschmerzen, Übelkeit, Diarrhoe, Fieber und Husten sind eher KEINE Symptome von Long-Covid sondern werden vermutlich durch andere Faktoren als Sars-CoV2 verursacht [9]
Risikofaktoren
  • Mädchen sind oft stärker betroffen, das Risiko steigt mit dem Alter [7]
  • Vorbestehende allergischen Erkrankungen, akute symptomatische Covid-Erkrankung und Komorbiditäten erhöhen das Risiko [7]
  • Soziale Risikofaktoren erhöhen das Risiko von akuter und anhaltender somatischer und psychiatrischer Symptomatik und Funktionseinschränkung [10]
Langzeitfolgen
  • Erste Studien zeigen Hinweise für spezifische hirnorganische Schäden nach Covid-Infektion, was andauernde kognitive Einschränkungen bewirken und sogar das Demenzrisiko erhöhen könnte [11]
  • Besondere Gefahr langfristiger psychosozialer Beeinträchtigung besteht bei Jugendlichen durch Unterbrechung bzw Abbruch von Schule oder Ausbildung [7]
  • Bei Jugendlichen besteht eine besondere Gefahr durch allgemeine soziale Einschränkungen in der Pandemie und durch soziale Einschränkungen infolge der Erkrankung, was akute und andauernde physiologische, psychologische, verhaltensbezogene und schulische Outcomes langfristig verschlechtern kann [12]
Psychiatrische Symptome unabhängig von Long-Covid

Seit Beginn der Pandemie haben psychiatrische Symptome unter jungen Menschen weltweit stark zugenommen. Besonders gilt das für Angstsymptome (Verdoppelung), depressive Symptome (+25%) und Angstsymptome (+20%). Negative Emotionen und Verhaltensweisen wie Impulsivität und Reizbarkeit – verbunden mit Erkrankungen wie ADHS – scheinen moderat zugenommen zu haben. Klinische Daten aus den USA von Anfang 2021 zeigen einen Anstieg von Klinikeiweisungen wegen V.a. Suizidversuch bei jungen Mädchen um 51%, bei Jungen um 4% gegenüber dem Vergleichszeitraum 2019. [13]

Die Pandemie führte zu einer Reduktion von Sozialkontakt mit Familie, Freunden, Peers, Rollenmodellen und Unterstützungsstrukturen, zu persönlichen Verlusten und sozialem Abstieg. Daneben sind Jugendliche konfrontiert mit Klimakrise, Krieg und drohender Wirtschaftskrise. All das passiert für Jugendliche in einem vulnerablen Zeitfenster, die Entwicklung von Identität und Lebensplanung stehen auf dem Spiel. Alle das muss zwangsläufig eine negative Auswirkung auf das psychische Wohlbefinden von Jugendliche haben.

Therapie

Jugendliche, die eine COVID-19-Erkrankung erlebt haben, sollten jedenfalls auf weiterbestehende physiologische, psychologische, verhaltensbezogene und schulische Ergebnisse hin überwacht werden [12].

Ob die bei Jugendlichen mit Long-Covid häufigen neuropsychiatrischen Symptome die Folge einer SARS-CoV-2-Infektion sind oder ob sie auf die enorme Belastung durch die Einschränkungen und die Pandemie zurückzuführen sind, ist heute noch nicht klar. In beiden Fällen spielt psychologische, psychotherapeutische, bzw psychiatrische Unterstützung eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Symptomatik. [3, 8]

Referenzen - Psychiatrische Aspekte bei Long Covid

Koczulla AR et al (2021). S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID. AWMF-Register Nr. 020/027.
Kop WJ (2021) Biopsychosocial Processes of Health and Disease During the COVID-19 Pandemic. Psychosomatic Medicine 83:304-8.
Oskotsky T et al (2021). Mortality Risk Among Patients With COVID-19 Prescribed Selective Serotonin Reuptake Inhibitor Antidepressants. JAMA Network Open 4:e2133090.
Rabady S et al (2021). Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien. Wiener Klinische Wochenschrift 133:237-78.
Richter D, Zürcher S (2021). Long-COVID/Post-COVID – Epidemiologie, mögliche Ursachen und Rehabilitationsbedarf psychischer Probleme. Psychiatrische Praxis 48:283-85.
Rittmannsberger H et al (2022). Neuropsychiatrische Aspekte von Covid-19. Fortschritte Neurologie Psychiatrie 90:108-120.
White L, Jackson T (2022). Delirium and Covid-19. Anaesthesia (10 January 2022 https://doi.org/10.1111/anae.15627).
Zürcher S et al (2021). Post-viral mental health Sequelae: Systematic review and meta-analysis of prevalence proportions. MedRxiv 2021. doi: 10.1101/2021.06.29.21259615

Referenzen - Kinder- und Jugendpsychiatrische Folgen im Rahmen von Long-Covid

WHO (2021 Oct 6th) A clinical case definition of post COVID-19 condition by a Delphi consensus
D.Buonsenso et al. (2021) Preliminary evidence on long COVID in children Acta paediatrica 110(7):2208-2211
I.M.Osmanov et al. (2021) Risk factors for long covid in previously hospitalised children using the ISARIC Global follow-up protocol: A prospective cohort study. Eur Respir J. 2021 Jul 1;2101341
A.A. Aasadi-Pooja (2021) Long COVID in children and adolescents World J Pediatr . 2021 Sep 3;1-5

Referenzen - Long-Covid bei Jugendlichen: schwierige Differenzierung zu allgemeinen psychologisch-psychiatrischen und sozialen Pandemiefolgen

[10] doi: 10.3390/vaccines10010081

[7] DOI: 10.1111/apa.15673

[4] doi: 10.1097/INF.0000000000003285

[11] doi: 10.1101/2021.06.11.21258690

[5] DOI: 10.1007/s12519-021-00457-6

[6] doi: 10.1007/s12519-022-00515-7

[12] doi: 10.1007/s12519-022-00515-7

[9] DOI: 10.1007/s00431-021-04345-z

[2] DOI: 10.1097/INF.0000000000003328

[3] DOI: 10.3390/life12020285

[8] doi: 10.1186/s13052-022-01233-6

[13] PMID: 34982518.