Situation der ME/CFS Betroffenen in Österreich
Autor_Innen:
Der folgende Text wurde von der Selbsthilfegruppe ME/CFS verfasst und gibt deren Sicht wieder.
Hauptautorin: Astrid Hainzl
Zusatzkapitel sind nicht Teil der Leitlinie S1, sondern bieten Zusatzinformationen. Sie geben daher die Erfahrungen und Einschätzungen der jeweiligen als Autoren angeführten Experten wieder.
Diagnose
Eine der großen Herausforderungen für Betroffene ist es, die korrekte Diagnose zu erhalten (Basted & Marshall, 2015). Internationale Studien gehen davon aus, dass 84-90 % der ME/CFS Betroffenen nicht (richtig) diagnostiziert sind (Jason et al., 2006a; Solomon & Reeves, 2004). Für Österreich konnte gezeigt werden, dass vom Auftreten der Symptome bis zur Diagnosestellung fünf bis acht Jahre, bei 30 % der Betroffenen sogar mehr als zehn Jahre vergehen (ÖGME/CFS, 2021).
Bis dahin vergeht viel Zeit, in der sich der Zustand der Betroffenen irreversibel verschlechtern kann. Eine frühe und vor allem richtige Diagnose von ME/CFS kann zu einer besseren Prognose für die Betroffenen führen (Jason et al., 2006a).
Einer der Gründe für die späte Diagnose von Betroffenen ist, dass ME/CFS trotz der Häufigkeit der Erkrankung weitgehend unbekannt und nicht ausreichend erforscht ist.
Ein weiterer Grund ist, dass ME/CFS häufig mit einer psychischen Krankheit verwechselt wird bzw. sich ein “psychisches Dogma” unter einem Teil der Mediziner:innen hält (Weir & Speight, 2021).
Medizinische Versorgung
Auch nach Erhalt der Diagnose gibt es aktuell für ME/CFS Betroffene keine angemessene Versorgungsinfrastruktur in Österreich. Es gibt weder öffentlich finanzierte Anlaufstellen zur Betreuung und Behandlung von ME/CFS, noch spezialisierte Rehabilitationseinrichtungen oder Pflegeplätze. In den bestehenden öffentlichen medizinischen Versorgungsstrukturen wird die Schwere der Erkrankung meist nicht ausreichend ernst genommen.
Fehldiagnosen von ME/CFS als psychischer Erkrankung gehen mit Therapieansätzen wie Psychotherapie und Bewegungstherapie einher, die für Betroffene schwerwiegende Konsequenzen haben können (Bested & Marshall, 2015; Komaroff, 2021; ÖGME/CFS, 2021; Shepherd, 2021; Weir & Speight, 2021). Während Psychotherapie nicht ursächlich wirken kann und bestenfalls unterstützend ist, ist Bewegungstherapie/ Aktivierungstherapie für ME/CFS Betroffene schädlich und kann den Zustand langfristig verschlechtern (siehe z.B. NICE, 2021).
Diese Erkenntnisse zum Umgang mit PEM sind auch für Long Covid Betroffene, die ME/CFS Symptome oder das Vollbild von ME/CFS entwickeln, zentral, um eine Chronifizierung und dauerhafte Verschlechterung des Zustandes zu vermeiden. Generell gilt, dass ME/CFS Betroffene NICHT überanstrengt werden sollen. Ein wichtiges Instrument dazu ist Pacing - ein Aktivitätsmanagement-Ansatz, der es den Betroffenen ermöglichen soll innerhalb der individuellen Leistungsgrenzen zu bleiben, um die Zustandsverschlechterung nach Anstrengung, die durch die Post Exertional Malaise (PEM) entsteht, zu vermeiden (siehe Abschnitt 12.2. “Pacing”).
Aktuell gibt es keine zugelassenen Medikamente und kausalen Therapien für ME/CFS. In der medizinischen Behandlung von ME/CFS steht daher die Linderung von Symptomen im Vordergrund.
Soziale Absicherung
Auch die soziale Absicherung der Betroffenen findet in Österreich nicht angemessen statt. Die Diagnose ME/CFS wird in sozialrechtlichen Verfahren, trotz verbindlicher ICD Kodierung (ICD-10 G93.3), meist nicht anerkannt (ÖGME/CFS, 2021).
Obwohl ein Großteil der Betroffenen nicht arbeitsfähig oder sogar bettlägerig und pflegebedürftig ist (Baxter et al., 2021; IOM, 2015; Pendergast et al., 2016; Vink & Vink-Niese, 2019), gibt es gravierende Probleme bei der behördlichen Anerkennung von Berufsunfähigkeitspension, Pflegestufe oder Behindertenstatus.
Aus Erfahrung der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS sind für eine Anerkennung von ME/CFS in den meisten Fällen langjährige Gerichtsverfahren notwendig - oft auch ohne Erfolg. In vielen Fällen werden durch die Behörden alternative Diagnosen gestellt, die im Bereich der psychischen Erkrankungen liegen. Betroffene erhalten damit zwar dann Anspruch auf Unterstützung, dieser ist aber bei einer Einstufung mittels psychischer Diagnose mit Auflagen verbunden, die dem Zustand der Betroffenen schaden. Siehe dazu Problemfeld 2: Medizinische Versorgung oben.
fehlende Forschung
Die Forschung zu ME/CFS ist besonders in Bezug auf die hohe Zahl der Betroffenen und die Schwere der Krankheitslast (siehe oben) international dramatisch unterfinanziert. Bisherige Forschungsinitiativen wurden vor allem durch private Gelder und Stiftungen ermöglicht. Forschung ist dringend im Bereich der Identifikation eines Biomarkers zur Diagnose und zur Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten notwendig.
2020 wurde mit Unterstützung aller österreichischen Parteien eine Resolution verabschiedet, die Forschungsgelder für die Diagnose und Behandlung von ME/CFS sichern soll (European Parliament, 2020). Eine Umsetzung durch die EU-Kommission hat bisher nicht stattgefunden.
Weitere Informationen
Weitere Informationen zur Situation der ME/CFS Betroffenen in Österreich finden Sie im ME/CFS Report Österreich 2021 und unter: https://cfs-hilfe.at/
ME/CFS Factsheet der ÖGME/CFS
Das Factsheet der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS fasst die wichtigsten Informationen und Quellen auf einen Blick zusammen. ME/CFS Factsheet
Unterstützung für Betroffene - Österreichische Gesellschaft für ME/CFS
Gegründet von Betroffenen für Betroffene, hat sich die Österreichische Gesellschaft für
ME/CFS (ÖGME/CFS) als gemeinnützige Organisation der Unterstützung von ME/CFS Erkrankten verschrieben.
Die ÖGME/CFS betreibt eine Online-Selbsthilfegruppe, in der sich Betroffene austauschen und gegenseitig unterstützen können.
Auf der Webseite der ÖGME/CFS stehen umfassende Informationen für Betroffene, aber auch für Mediziner:innen und medizinisches Personal zur Verfügung.
Auf politischer Ebene setzt sich die ÖME/CFS für eine strukturelle Verbesserung der Situation von ME/CFS Erkrankten ein. Weitere Informationen unter: https://cfs-hilfe.at/
Weitere Quellen mit Konsensuspapieren und internationalen Leitlinienempfehlungen sowie andere Informationsquellen für Ärzt_innen
finden Sie im Menüpunkt Chronisches Erschöpfungssyndrom – ME/CFS
Referenzen
Bested, A. C., & Marshall, L. M. (2015). Review of Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: an evidence-based approach to diagnosis and management by clinicians. Reviews on environmental health, 30(4), 223-249. https://doi.org/10.1515/reveh-2015-0026
Baxter, H. et al. (2021). Life-Threatening Malnutrition in Very Severe ME/CFS. Healthcare, 9(4), 459. Multidisciplinary Digital Publishing Institute. https://doi.org/10.3390/healthcare9040459
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